Hast du Angst, im Dunkeln über den Campus zu laufen?
Wurdest du im Seminar schon mal misgendert? Also dem falschen Geschlecht zugeordnet oder mit dem falschen Pronomen angesprochen?
Hat dir ein Kommilitone aus der Lerngruppe schon mal ungewollt ein Dickpic geschickt?
Dir ist das noch nie passiert? Anderen hingegen schon.
Der Moment, in dem du ein Bewusstsein für andere Lebensrealitäten und die Diskriminierungserfahrungen, die damit einhergehen können, entwickelst, nennt man Awareness. Übersetzt heißt Awareness so viel wie Achtsamkeit. Achtsamkeit hinsichtlich der eigenen Personen, anderer Menschen, der Umwelt: „Achte auf dich und auf andere, auf deine und ihre Grenzen und Bedürfnisse“ (Ann Wiesental)
Hier geht es also um das Schärfen des Bewusstseins für die eigenen Grenzen und Bedürfnisse, aber auch für die eigenen Stereotype und grenzüberschreitende oder diskriminierende Verhaltensweisen; sich seiner eigenen Position in der Gesellschaft und der damit verbundenen Privilegien bewusst zu sein. Eine Schwarze Frau macht in der Uni zum Beispiel andere Erfahrungen als eine weiße Frau.
Awareness geht aber über den Moment der Bewusstseinswerdung hinaus. Das Konzept, das aus der Psychologie stammt und von Aktivist*innen für ihre Arbeit nutzbar gemacht wurde, umfasst auch die sich aus dem Moment des Aware-Seins ergebenen Verhaltensänderungen. Wenn ich zum Beispiel weiß, dass eine Frau, die nachts vor mir (als Mann) herläuft und durch meine Anwesenheit Angst haben könnte, gehe ich demonstrativ etwas langsamer oder wechsele die Straßenseite. Oder wenn ich weiß, dass bestimmte Worte Menschen verletzen können, versuche ich sie demnächst einfach aus meinem Wortschatz zu streichen.
Manchmal merken wir erst durch die Reaktion unseres Gegenübers, dass wir uns grenzüberschreitend geäußert oder verhalten haben. In diesem Fall ist eine Entschuldigung angebracht und die Ambition, es das nächste Mal anders zu machen. Awareness bedeutet auch, anzuerkennen, dass Grenzen subjektiv sind. Das klingt erst mal kompliziert, weil es für uns nun mal einfacher ist, in Kategorien zu denken, aber mit ein bisschen Übung und Empathie lassen sich auch ungewohnte Situationen meistern. Jenny Odell bringt die mit Awareness verknüpfte Haltung auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Einfaches Bewusstsein ist der Keim der Verantwortung“ (Jenny Odell)
Neben den erwähnten individuellen Denk- und Verhaltensweisen umfasst das Awarenesskonzept auch die strukturelle Ebene. Diskriminierung und Gewalt sind in unseren gesellschaftlichen Strukturen verankert. Strukturen, die aus historischen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen gewachsen sind und bewusst sowie unbewusst Einfluss auf Individuen und Institutionen haben.
Die Arbeits- und Ausbildungsstätte Hochschule ist Abbild einer Gesellschaft und somit sowohl Ausdruck wie Produzentin der in ihr existierenden Diskriminierungsstrukturen und Hierarchien. Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt sind Probleme, die in allen gesellschaftlichen Bereichen noch weitgehend tabuisiert sind und wenig Öffentlichkeit erfahren – so auch in der Hochschule und insbesondere der Forschung. Aus diesem Grund ist es wichtig, struktureller Diskriminierung zum Beispiel in Form von Sexismus mit entsprechenden Maßnahmen zu begegnen und angemessene Präventions-strategien zu entwickeln. Zu solchen Maßnahmen zählen u. a. Richtlinien, die darüber aufklären, was Sexismus, sexualisierte Belästigung und Gewalt sowie andere Formen der Grenzüberschreitung bedeuten, an wen man sich innerhalb der Hochschule im Notfall wenden kann und welche Möglichkeiten man als betroffene Person hat, sich zu wehren. Weitere Möglichkeiten sind Informations- und Sensibilisierungsworkshops zu den genannten Themen für alle Mitglieder der Hochschule, Fortbildungen für Menschen mit Leitungsfunktion, verschiedene Aktionen zugeschnitten auf die unterschiedlichen Statusgruppen, diskriminierungsarme Öffentlichkeitsarbeit und vieles mehr.
„In zwischenmenschlichen Beziehungen an lokalen sozialen Orten können Verhaltensweisen, Annahmen und Sichtweisen zwar verändert werden, doch zieht das leider noch keinen strukturellen Wandel nach sich.“ (Wiesental)
Aus diesem Grund müssen die individuelle und strukturelle Ebene immer zusammengedacht werden, Awarenessarbeit muss dementsprechend auf beiden Ebenen ansetzen, um nachhaltig Kulturwandel anzustoßen.
Awarenessarbeit hat also zum Ziel, eine Sensibilität und Offenheit für andere Lebensrealitäten und damit verbundene Erfahrungen zu schaffen, aber auch Betroffenen Schutz zu bieten. Grundvoraussetzung dafür ist das Erkennen und die Infragestellung der eigenen Stereotype und Vorurteile und die Motivation, diese abzubauen. Im feministischen Kontext bedeutet das, sexistische Strukturen und Verhaltensweisen zu erkennen, einen Weg zu finden, diese zu benennen und ihnen aktiv entgegenzutreten. Sich dieser diskriminierenden Gesellschaftsstrukturen oder Verhaltensweisen bewusst zu werden, verlangt Reflexionsarbeit und ein kontinuierliches (Dazu-)Lernen. Es braucht Courage und auch Empathie, sich mit der eigenen Position in der Gesellschaft und den damit verbundenen Privilegien auseinanderzusetzen und Diskriminierung zu erkennen. Auf die „eigenen ‚Mängel‘“ wird man in der Regel von anderen hingewiesen. Das heißt, Diskriminierung spürt man, den eigenen Privilegien muss man sich erst gewahr werden.
Awarenessarbeit ist eine lebenslange Aufgabe. Veränderungen finden immer im Austausch statt, sei es durch Gespräche mit Freund*innen, beim Lesen eines Buches oder dem Besuchen von Veranstaltungen.
„Reflexion geht vor und zurück, verläuft im Zickzack, beschreibt Kreise und bleibt auch mal irgendwo stecken.” (ebd.)
Es gibt nicht die eine Lösung oder einen Fahrplan, der auf alle Situationen oder Institutionen anwendbar ist. Es ist nötig, die Gegebenheiten immer wieder zu reflektieren, um auf konkrete Strukturen, Ereignisse und Menschen einzugehen.
Mehr zum Thema findet ihr in unserem Moodle-Kurs!
Odell, Jenny (2021): Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. München: Verlag C.H. Beck.
Wiesental, Ann (2017): Antisexistische Awareness. Ein Handbuch. Münster: Unrast Verlag.