Laut einer von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) im Jahr 2020 veröffentlichten Umfrage unter LGBTI-Personen lebt die Hälfte der queeren Menschen ihre sexuelle Orientierung bis heute nicht offen aus. Dieses Ergebnis nahmen drei Mitarbeiter*innen des Seminars für Slavistik zum Anlass, um ihre Expertise und ihr Engagement in dem interdisziplinären Gleichstellungsprojekt „Queer im Leben“ zu bündeln. Mit dem vom Lore-Agnes-Programm geförderten Projekt möchten Michael Troitski-Schäfer, Daria Khrushcheva und Natalie Berg einen Austausch zwischen LGBTQIA*-Personen und Menschen fördern, die sonst wenig bis keine Berührungspunkte mit der queeren Lebenswelt haben. Laura Chlebos hat mit Natalie Berg über die Inhalte von „Queer im Leben“, die Lebensverhältnisse von in Russland lebenden LGBTQIA*-Personen und die Bedeutsamkeit von Vernetzung gesprochen.
Laura Chlebos: Vielen Dank, dass du dir für dieses Interview Zeit nimmst! „Queer im Leben“ heißt das Projekt – was steckt dahinter?
Natalie Berg: Das Rektorat der Ruhr-Universität Bochum hat im Sommer 2020 im Rahmen der Lore-Agnes-Projektausschreibung entschieden, unser interdisziplinäres Gleichstellungsprojekt, das dem Seminar für Slavistik/Lotman-Institut für Russische Kultur zugeordnet ist, mit Fördermitteln zu unterstützen. Derzeit entsteht bei uns nicht nur eine Lehrveranstaltung für den Studiengang Slavistik mit öffentlicher Vortragsreihe, sondern auch ein eigens für das Alfried Krupp-Schülerlabor konzipierter Projekttag für Schüler*innen der Mittel- und Oberstufe. Der thematische Schwerpunkt liegt auf der Region Osteuropa mitsamt der historischen, politischen und sozialen Bedingungen für die gesellschaftliche Entwicklung der queeren Community. Im Schülerlabor soll zudem die Arbeit von deutschen und russischen LGBT+-Organisationen vorgestellt werden. Auf diese Weise möchten wir einen Beitrag zur Sichtbarkeit der queeren Gemeinschaft in der Gesellschaft leisten und das Verständnis sowie Interesse für sie fördern. Unser Projekt zielt auf den Austausch zwischen LGBTQIA*-Personen und Menschen ab, die sonst wenig bis keine Berührungspunkte mit der queeren Lebenswelt haben.
Wer leitet das Projekt?
„Queer im Leben‘ wird noch bis zum 31. März 2021 von Michael Troitski-Schäfer geleitet. Daria Khrushcheva löst ihn zum Sommersemester ab, damit er sich unter anderem seinen Aufgaben bei Quarteera e.V. in Berlin widmen kann. Quarteera e.V. ist eine russischsprachige LGBT-Organisation in Deutschland.
Was ist eure Motivation hinter „Queer im Leben‘? Warum habt ihr es ins Leben gerufen? Welche Ziele verfolgt ihr mit dem Projekt?
Den Aufhänger für unser Projekt lieferte die Schlagzeile eines Zeit Online-Artikels, der Bezug auf die 2020 veröffentliche Umfrage der Agentur für Europäische Grundrechte (FRA) unter LGBTI-Personen in Europa nahm. Das Fazit der Studie war für uns wenig überraschend: Die Hälfte der queeren Menschen lebt ihre sexuelle Orientierung bis heute nicht offen aus.
Da wir drei uns bereits seit Langem aus unterschiedlichen Perspektiven und Motivationen heraus mit der LGBTQIA*-Gemeinschaft beschäftigen, wollten wir letztes Jahr ein Projekt auf die Beine stellen, das unsere Stärken mit unseren Interessenschwerpunkten vereint. Mit dem großen gesellschaftspolitischen Engagement von Michael inner- sowie außerhalb der Ruhr-Universität, Darias kulturwissenschaftlich weitreichender Expertise zum Thema und meiner Verbindung ins Alfried Krupp-Schülerlabor sowie den Erfahrungen, die ich über mehrere Jahre hinweg in der englischen LGBT+-Jugendarbeit sammeln konnte, musste sich etwas Fruchtbares ergeben!
Letztendlich möchten wir mit unserem Projekt die Sichtbarkeit des alltäglichen Lebens von LGBTQIA*-Personen in der Gesellschaft genauso fördern wie das Verständnis und Interesse für sie. Uns ist es ein Anliegen, dass queere Menschen ein Stück weit weniger vorverurteilt und diskriminiert werden – das geschieht nämlich noch immer Tag für Tag und nicht nur in osteuropäischen Ländern, sondern auch bei uns in den Schulen, bei Bewerbungsgesprächen oder – ganz platt und unvorhergesehen – beim Schlangestehen an der Supermarktkasse. Wir sind der Meinung: Das kann und darf nicht sein, denn wir sind alle nur Menschen! Unser Name ‚Queer im Leben‘ ist daher ein sprachlich ausformuliertes Augenzwinkern und bezieht sich auf die deutsche Redensart, jemand stehe „mit beiden Beinen‘ fest im Leben.
Slavistik ist ja schon ein eher spezielleres Fach. Warum ist hier eine queere Perspektive nötig?
Die Lebensverhältnisse von in Russland lebenden LGBTQIA*-Personen haben sich in den vergangenen Jahren beispielsweise so besorgniserregend verschlechtert, dass wir dies im Rahmen der slavischen Kulturwissenschaft thematisieren wollen und auch müssen – weil das Thema mehr Publizität braucht. Das mag den ein oder anderen auf den ersten Blick vermutlich wundern, allerdings reicht ein kurzer Streifzug durch die russische Rechtsgeschichte, um die Problematik dahinter zu verstehen:
Mit der Abschaffung des Paragrafen 121.1 im Mai 1993, durch den zuvor homosexuelle Kontakte mit Gefängnisstrafen belegt werden konnten, wurde die Regenbogengemeinschaft in Russland entkriminalisiert. Man ermöglichte somit im gleichen Atemzug einer zunehmend nach Öffentlichkeit strebenden LGBTQ-Bewegung, ihre Interessen offener als zuvor zu vertreten und endlich gehört zu werden.
Im Jahr 2013 änderte das sogenannte „Gesetz gegen homosexuelle Propaganda“ die Atmosphäre im Land jedoch erneut und zwang die queere Szene zurück ins Verborgene.
Die Abneigung gegen Homosexualität und das Tätigen homophober Aussagen ist in weiten Teilen der russischen Gesellschaft seitdem wieder salonfähig. Hasskriminalität nimmt zu. Immer wieder hört man Nachrichten aus verschiedenen russischen Regionen über ungeklärte Todesfälle sowie Verfolgungen, Verhaftungen und Folterungen von Homosexuellen.
Zwar sind homosexuelle Handlungen bis zum heutigen Zeitpunkt legal, jedoch werden Menschen überwiegend tabuisiert, die nicht Teil der staatlich propagierten, heteronormativen Gesellschaft sind. Diese sich daraus entwickelnde Ablehnung gegenüber sexuellen Minderheiten spiegelt sich allerdings nicht nur in der russischen Bevölkerung des 21. Jahrhunderts wider, sondern nimmt auch in anderen osteuropäischen Staaten, wie beispielsweise in Polen oder der Ukraine, einen festen Platz ein. Die Bemerkungen des tschetchenischen Oberhauts Ramsan Kadyrow, es gäbe keine Homosexuellen in seinem Land und „Sollten da welche sein, dann bringt sie nach Kanada!“, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.
Ich habe gelesen, dass ihr einen Projekttag mit Schüler*innen plant. Was sind die Inhalte des Tages und was möchtet ihr den Schüler*innen vermitteln?
Der übergeordnete Gedanke des Projekttags am Alfried Krupp-Schülerlabor ist es, den Brückenschlag zwischen kulturwissenschaftlicher Theorie und gelebter Praxis zu vollziehen. Daher bekommen die Schüler*innen in der ersten Lehreinheit einen Einblick in die akademische Arbeitswelt, indem wir sie mit der slavischen Forschung zur LGBTQ-Entwicklung Russlands mithilfe einer Art verkürzten Vorlesung vertraut machen.
Der zweite Teil ist als interaktives Format angelegt, in dem wir zahlreiche LGBTQIA*-Interessensvertretungen und ihr Wirken in verschiedenen Ländern vorstellen. Eines der Lernziele soll hierbei die Erkenntnis sein, dass bei der Arbeit von queeren Organisationen verschiedene Schwerpunkte – zum Beispiel Migration, Safer Sex oder psychische Gesundheit – gesetzt werden und sich diese historisch bedingt aus den unterschiedlichen Bedürfnissen der Community heraus (weiter-)entwickelt haben.
Im Anschluss erfolgt in der dritten Phase die selbstständige Aufarbeitung des Themenkomplexes in Kleingruppen mit einem Forschungsauftrag zu bereitgestellten und inhaltlich zusammenhängenden Theorie- und Praxisstationen. Angeleitet und unterstützt werden sie neben abgestimmten Lernmaterialien zum Lesen, Hören und Anfassen auch von mir und den im Vorfeld geschulten Projektleiter*innen.
Die Schüler*innen sollen sich auf diese Weise mit der Rezeption der LGBTQ-Gemeinschaft in Ost- und Westeuropa auseinandersetzen und ein Gespür für die Probleme und Bedürfnisse von LGBTQIA*-Menschen bekommen.
Der Projekttag ist ein Angebot, das sich primär an Schulklassen der fortgeschrittenen Sekundarstufe I sowie der Sekundarstufe II richtet, die sich gemäß des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans mit Gleichstellungsthemen und im Besonderen mit der Regenbogengemeinschaft auseinandersetzen wollen.
Wofür steht das „+‘ hinter LGBT+?
Das „+‘ steht stellvertretend für weitere Geschlechtsidentitäten wie beispielweise „queer‘, „inter-‚ oder „asexuell‘. Die Bezeichnung „LGBT+‘ ist quasi nichts anderes als eine verkürzte Schreibweise von LGBTQIA* (lesbian, gay, bisexual, trans, queer, inter, asexual). Sie kommt bei uns immer dann zum Einsatz, wenn wir an unsere sprachlichen Gestaltungsgrenzen stoßen.
Wie ist die aktuelle Lage der queeren Community in Osteuropa? Sind die deutsche und die osteuropäische Community miteinander vernetzt?
Für die queere, osteuropäische Gemeinschaft ist das Internet nicht erst seit der Covid 19-Pandemie das Kommunikationsmedium der Wahl. In den letzten fünfzehn Jahren avancierte das WorldWideWeb zu der wichtigsten Plattform für den Austausch und Zusammenschluss untereinander. Aufgrund der überdauernden, feindlichen Atmosphäre in Russland ist man schlicht und ergreifend darauf angewiesen, vor allem über die Neuen Medien zu interagieren und weniger im direkt-persönlichen Austausch zu stehen – wenngleich dieser natürlich auch weiterhin stattfindet! Im Netz sind daher nicht nur zahlreiche Aktivist*innen anzutreffen, sondern auch Projekte und zivilgesellschaftliche Initiativen, wie zum Beispiel die NGO Rossijskaja LGBT-Set‘, Deti-404 oder die LGBT-Filmfestspiele „Bok o Bok‘. Natürlich gibt es auch etliche Onlineforen von und für bisexuelle, trans* Personen und vieles mehr.
Vor knapp zwei Monaten hatte ich zudem die Möglichkeit, mich online mit Mitgliedern der lesbisch-feministischen Organisation Sfera in Charkiw über queere Bildungsarbeit in Deutschland, der Ukraine und dem Vereinigten Königreich auszutauschen. Wir sprachen unter anderem über die Pride Parade in der Stadt, die erstmalig (!) 2019 stattfand, aber auch über eine rechtsradikale Gruppierung, die aus Langeweile heraus einen Filmabend in ihrem Gemeinschaftszentrum zu boykottieren versuchte – und scheiterte. Im Jahr 2020 hatte das Zentrum zu diesem Zeitpunkt bereits 19 Angriffe und Vandalismusattacken verzeichnen müssen.
Gibt es also die Vernetzung der deutschen und osteuropäischen Community? Jein. Sie findet vornehmlich im Privaten statt oder – wie in meinem Fall mit den Ukrainer*innen – im kleinen, halböffentlichen Kreis. Das liegt einerseits daran, dass ein Teil der queeren Osteuropäer*innen ihre Heimat zurücklässt, um sich aus dem Ausland heraus für LGBTQIA*-Rechte einzusetzen. Andererseits unterscheiden sich die innenpolitischen Herausforderungen, mit denen sich die LGBTQ-Bewegungen der jeweiligen Länder im direkten Vergleich konfrontiert sehen. Viele Kontakte nach Westeuropa, Kanada und in die USA hat jedoch beispielsweise Rossijskaja LGBT-Set‘. Nach den Massenverhaftungen, Folterungen und Ermordungen homosexueller Männer in Tschetschenien 2017 war in diesem Zusammenhang Deutschland eines der Länder, das den Verfolgten Asyl gewährte. Ich vermute allerdings, dass erst dann eine größere und vor allem sichtbare internationale Vernetzung stattfinden wird, wenn Probleme auf nationaler Ebene nachhaltig aufgelöst worden sind.
Möchtest du noch etwas über das Projekt sagen?
Die Zielgruppe unseres Projekts umfasst zwar primär Studierende, Schüler*innen und Lehrende, jedoch können sich auch weitere Interessierte gern und jederzeit mit uns zum Beispiel auf Instagram vernetzen oder an der im Sommer 2021 stattfindenden, öffentliche Vortragsreihe von „LGBTQ in Russland: Zwischen Politik, Medien und Kunst“* teilnehmen. Wir werden dort anhand konkreter Beispiele für Menschenrechtsverletzungen, sprich die von LGBTQIA*-Personen in Osteuropa, gemeinsam mit Gästen erörtern, warum sowohl Homo- als auch Xenophobie im Jahr 2021 noch immer eine Rolle im täglichen Miteinander spielen. Bei unserer Arbeit ist es uns nämlich besonders wichtig, dass wir in den Dialog mit anderen treten.
Die Einstellung der russischen „Otto-Normalverbrauchenden‘ zu den Themen Gleichheit und LGBT ist übrigens auch alles andere als eindeutig. Viele wollen überhaupt nicht darüber sprechen, andere reagieren bei einem Gesprächsversuch aggressiv und manche haben schlicht und ergreifend Angst vor dem Fremden. Es mag banal klingen, aber es ist so. In Deutschland scheint man da ein paar Schritte weiter zu sein, wenngleich auch hier weiterhin Vorverurteilungen und Ausgrenzungen im großen Stil stattfinden.
Uns ist letzten Endes bewusst, dass unser Projekt bei Weitem nicht alle Probleme der queeren Community in Deutschland und Osteuropa lösen kann. Wir möchten uns allerdings dafür engagieren, dass sich unsere Gesellschaft wieder stärker mit unbequemen Themen auseinandersetzt.
* Das gleichnamige Proseminar findet im Sommersemester 2021 freitags von 12 bis 14 Uhr statt.
Weitere Informationen zum Projekt findet ihr:
… auf der Homepage des Seminars für Slavistik/Lotman-Instituts für Russische Kultur.
… bei WDR COSMO (auf Russisch).
… im Interview mit Daria Khrushcheva (auf Russisch).
… auf Instagram (#QiL)