Ist Männlichkeit giftig? Mit dieser Frage wendete sich WDR Cosmo im vergangenen Dezember an die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin von Unser Campus, Laura Chlebos. In einem Themenspecial gingen die Redakteur*innen den Fragen nach, für welche Eigenschaften und Werte Männlichkeit in unserer heutigen Gesellschaft steht und was genau sich hinter dem in den Medien viel genutzten Begriff Toxic Masculinity (Toxische Männlichkeit) verbirgt.
Was hat Männlichkeit mit einer Kampagne gegen sexualisierte Gewalt und Diskriminierung zu tun?
Eine elementare Säule der Kampagne ist die Reflektion über Männlichkeit(en) und die Rolle von Männern in der Beseitigung von sexualisierter Gewalt. Unter Männlichkeits- und Geschlechterforscher*innen besteht Konsens darüber, dass trotz der Existenz unterschiedlicher Männlichkeiten in unserer Gesellschaft nach wie vor traditionelle Muster von Männlichkeit im Denken und Handeln verbreitet sind. Mit traditioneller Männlichkeit werden Werte wie Stärke, Rationalität, Tapferkeit verbunden und weiblich konnotierte Eigenschaften wie Emotionalität, Fürsorge und Passivität ausgeschlossen. Im Allgemeinen werden Jungs weniger darin unterstützt, ein breites Spektrum an Bewältigungsstrategien im Umgang mit Zurückweisung, Phasen der Verunsicherung oder Krisen auszubilden. Redensarten wie ‚Boys don’t cry‘ (Jungs weinen nicht) oder ‚Boys will be Boys‘ (Jungs sind nun mal Jungs) stützen destruktive Verhaltensweisen wie emotionale Distanz und Aggressivität und tragen dazu bei, Gewalthandeln als Konfliktbewältigung – unter Jungs und Männer, aber auch gegen Frauen gerichtet – zu normalisieren. Die Kampagne möchte diese Dynamik durchbrechen, indem sie die Pluralität von Männlichkeiten in den Mittelpunkt rückt, alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigt und Männern ihre Mitverantwortung im Abbau von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung vor Augen führt.
An dieser Stelle folgt das Transkript des Interviews vom 16.12.2019 zum Thema Toxic Masculinity.
WDR Cosmo: Es gibt noch keine allgemeine wissenschaftliche Definition dazu, was Toxische Männlichkeit ist. Wie würdest du den Begriff denn persönlich definieren?
Laura Chlebos: Toxische Männlichkeit benennt ein traditionelles Männlichkeitsbild, das die Vielfalt von Männlichkeit(en) in unserer Gesellschaft nicht widerspiegelt. Zudem werden die damit verbundenen, als männlich assoziierten Verhaltensweisen adressiert, die destruktiv oder schädigend wirken können, wie zum Beispiel emotionale Distanz, Aggression, Dominanz oder sexuell übergriffiges Verhalten. Diese Gewalthandlungen können sich gegen andere Männer richten, gegen Frauen, Kinder und gegen die LGBTI*-Community, aber auch gegen sich selbst. Aber ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass Männlichkeit an sich nicht toxisch ist, sondern, dass einige, wie die eben benannten Verhaltensweisen, toxisch sind, was wiederum bedeutet, dass Männer immer die Handlungsoption haben.
Was macht Männlichkeit denn vergiftet?
Meiner Meinung nach ist die geschlechterspezifische Sozialisation, die Jungen und Männern keine breite emotionale Entfaltungsmöglichkeit bietet, ein großes Problem. Wir wissen, Härte, Stärke, Erfolg stehen für Männlichkeit, und gewalttätiges oder aggressives Verhalten wird mit Sprüchen wie Boys will be boys abgetan, also, man sagt, das machen Jungen nun mal so, sie sind eben wilder. Abweichungen von dieser Norm werden lächerlich gemacht oder abgestraft, und die Folge ist dann nun mal, dass Männer kein breites Repertoire an Strategien haben, um mit Konflikten umzugehen. Männer weinen nicht, Boys don’t cry, Männer sind wütend und diese Wut kann sich in Gewalt äußern. Außerdem nehmen Männer mit einem traditionellen Männlichkeitsbild weniger professionelle Hilfe in Anspruch, das heißt, dieses Verhalten ist auch eine Gefahr für Männer selber, da es zum Beispiel dazu führen kann, dass sie seltener zum Arzt gehen. Männer sterben dreimal häufiger durch Suizid und in der Regel auch fünf Jahre früher als Frauen.
Wo und in welchem gesellschaftlichen Kontext begegnet uns denn Toxische Männlichkeit?
Mit dem Begriff wird sich aktuell überwiegend in einem aktivistisch-feministischen Kontext auseinandergesetzt, der schwappt auch nach und nach in die Feuilletons. Im wissenschaftlichen Kontext wird der Begriff eher im anglo-amerikanischen Bereich benutzt, und wenn wir dann von diesem Begriff hören, dann oft im Kontext mit sexualisierter Gewalt oder Femizid, also Frauenmord, um eben die genannten schädigenden, gefährlichen Verhaltensweisen anzuprangern und deutlich zu machen, dass es keine Einzelfälle sind. Aber es gibt auch durchaus Männer, die ihn selber benutzen, um deutlich zu machen, hey, mir geht’s damit auch nicht gut, ich möchte, dass sich daran etwas ändert.
Der Begriff hat seit einiger Zeit Konjunktur und ist zu einer Art Kampfbegriff geworden – wie erklärst du dir das?
In erster Instanz schafft dieser Begriff erfolgreich eine Öffentlichkeit für die Thematik und stößt nach und nach Diskussionen an. Frauen und auch immer mehr Männer kritisieren traditionelle Geschlechterbilder und insbesondere das Männlichkeitsbild. Es gibt den Wunsch nach vielfältigen Männerbildern, um unserer komplexen Lebensrealität gerecht zu werden, und dieser Begriff wird jetzt nach #metoo zwar breit diskutiert, aber im feministischen Kontext war das eigentlich immer schon ein Thema.
Die Frage danach, wie sinnhaft die Nutzung des Begriffs ist, ist relevant, da er insbesondere unter Männern auf Ablehnung stößt, die ihn als diskriminierend und aggressiv empfinden und sie nun mal wichtige Adressaten darstellen. Meiner Meinung nach kann man ihn u. a. auch dafür kritisieren, dass aufgrund seiner Etymologie Verhaltensweisen als naturgegeben verstanden werden können. Es ist wichtig zu betonen, dass es hier um Entscheidungs- und Handlungsoptionen von Männern geht, das heißt, der Mann hat die Möglichkeit, sich z. B. gegen gewalttätiges Handeln zu entscheiden. Inwieweit der Begriff an sich schon zur gesellschaftlichen Transformation beitragen kann, wird sich zeigen, aber die dadurch entfachten Diskussionen haben definitiv das Potential, Kulturwandel anzustoßen.