Man hört und liest die Begriffe „sexualisierte Gewalt“, manchmal auch „sexueller Missbrauch“ oder „sexuelle Nötigung“, manchmal synonym, manchmal in Abgrenzung zueinander, in der Presse und den sozialen Medien. Nicht selten sind die Begrifflichkeiten unscharf und lassen erahnen, dass der*die Autor*in sich ebenfalls nur wenig bis gar nicht mit der Herkunft der Begriffe beschäftigt hat. Daher folgt ein kleines Lexikon, wie alle diese Begriffe strafrechtlich richtig zu verwenden sind und welche dieser Begriffe vielleicht nicht einmal einen strafrechtlichen Hintergrund haben. Nicht alle Formen sexualisierter Gewalt lassen sich diesen Begriffen unterordnen. Einige wenige haben eigene, konkrete Namen bekommen (zum Beispiel „Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen“ – in der Umgangssprache auch als Upskirting oder Downblousing bekannt), andere wiederum sind nicht strafbar oder unterfallen Straftatbeständen, die auch außerhalb sexualisierter Gewalt Anwendung finden, wie etwa die Beleidigung in Bezug auf das sogenannte Catcalling.
Die strafrechtlichen Begriffe
„Gewalt“: Wird eine Person zum Beispiel gegen ihren Willen festgehalten, geschlagen oder eingesperrt und sodann sexuelle Handlungen an ihr vorgenommen, dann liegt körperlicher Zwang vor. Die Vergewaltigung ist eine Sonderform dieser Gewalt und verlangt das Eindringen in den Körper des Opfers.
„Sexueller Übergriff“: Ein sexueller Übergriff liegt vor, wenn das Opfer betrunken ist oder unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln steht oder es zum Beispiel aufgrund einer geistigen Behinderung ansonsten nicht in der Lage ist, einer sexuellen Handlung überhaupt zuzustimmen und der*die Täter*in trotzdem sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt.
„Sexuelle Nötigung“: Droht ein Chef mit der Kündigung, wenn die Angestellte keine sexuellen Handlungen mit ihm vorliegt oder verspricht die Hausdetektivin dem Ladendieb, ihn nicht anzuzeigen, wenn er im Gegenzug sexuelle Handlungen an ihr vornimmt, wird dem Opfer also mit einer negativen Konsequenz gedroht, dann handelt es sich um eine sexuelle Nötigung.
„Sexuelle Belästigung“: Fasst eine Person einer anderen etwa auf das Gesäß oder die Brust, zum Beispiel in der Straßenbahn oder im Club, dann handelt es sich um eine belästigende körperliche Berührung, die das Strafrecht sexuelle Belästigung nennt.
„Sexuelle Handlung“: Das Gesetz spricht nach wie vor einheitlich von sexuellen Handlungen. Eine genaue Definition dafür gibt es nicht, es kommt darauf an, dass ein den Vorgang wahrnehmender objektiver Beobachter den Sexualbezug bejahen würde. Einige verstehen unter dem Begriff „sexuell“ jedoch ausschließlich einverständliche Handlungen, der Begriff „sexualisiert“ wird politisch eingefordert und soll sich davon abgrenzen und betonen, dass es bei derartigen Handlungen um Macht und Gewalt geht. Das Strafrecht braucht diese Abgrenzung nicht. Denn die allgemeine Handlungsfreiheit ermöglicht es, in jede strafbare Handlung gegen sich selbst einzuwilligen, sich also damit einverstanden zu erklären. BDSM-Praktiken etwa unterfallen nicht selten einem Straftatbestand, sind aber selbstverständlich straflos, wenn beide mit der Vornahme einverstanden sind.
„Pornographie“: Das wesentliche Charakteristikum von Pornographie liegt darin, dass sie ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes zielt. Darüber hinaus ist man sich in der Rechtswissenschaft uneinig, wie sich Pornographie genau definieren lässt. Kritiker*innen sind hier der Meinung, Pornographie verharmlose das, was das Strafrecht unter Strafe stellen möchte, weil der Begriff auch für nicht strafrechtlich relevante Filme, Videos und anderes Bildmaterial verwendet werde.
„Sexualisierten Gewalt“: Der Begriff „sexualisierte Gewalt“ wird nicht nur in der Presse und den sozialen Medien, sondern zum Beispiel auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Eine eindeutige Definition sucht man vergebens. Vielmehr dient er als Oberbegriff für alle Handlungen, die das Recht des Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung verletzten. Also solche sexuellen Handlungen, die aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Nicht selten wird damit ein Mensch erniedrigt oder kleingemacht. Für das Strafrecht eignet sich so ein Begriff, der derart unterschiedlich verwendet und verstanden werden kann, daher nicht. Denn zum einen ist es nicht eindeutig, welche Handlungen genau erfasst sein sollen, zum anderen stellt das Begriffsverständnis oft auf das subjektive Empfinden des Opfers ab, also darauf, was der*die Einzelne*r als Überschreitung der eigenen Grenzen empfindet. Damit aber alle Bürger*innen genau wissen, welche Handlungen unter Strafe stehen, müssen im Strafgesetzbuch eindeutig und unmissverständlich die Handlungen erklärt werden, die verboten sind. Dazu gehört auch, dass es nicht vom Empfinden einer Person abhängen darf, ob eine Handlung strafbar ist, sondern dass von außen erkennbar ist, ob es sich gerade um eine einverständliche Handlung handelt oder nicht.
Darüber hinaus ist der in der „sexualisierten Gewalt“ vorkommende Begriff „Gewalt“ problematisch, weil das Strafgesetzbuch seit mehr als einem Jahrhundert unter „Gewalt“ in anderen Straftatbeständen (zum Beispiel der Nötigung oder dem Raub) jede körperliche Tätigkeit versteht, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Das heißt Gewalt geht immer einher mit einer Einwirkung auf den Körper. Zudem muss von dem Opfer Widerstand erwartet werden. Auf ganz viele Formen der umgangssprachlich als sexualisierte Gewalt bezeichneten Handlungen, wie etwa das heimliche Fotografieren des Intimbereichs oder das unerwartete Anfassen der bekleideten Brust, trifft das gar nicht zu. Der Begriff „Gewalt“ deckt im Strafrecht gemäß der strafrechtlichen Definition somit einen viel kleineren Anwendungsbereich ab, als politisch mit der Bezeichnung „sexualisierte Gewalt“ gemeint ist und wird daher im Strafgesetzbuch auch nicht pauschal verwendet.
Dr. Jennifer Grafe, LL.M., ist Juristin und Wissenschaftlerin und forscht und lehrt im Bereich Strafrecht und Strafprozessrecht mit besonderem Fokus auf Sexualstrafrecht und im Bereich Queer Law und Queer Legal Theory an der Ruhr-Universität Bochum und an der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Zum Weiterlesen:
Julia Habermann: Partnerinnentötungen und deren gerichtliche Sanktionierung. Eine vergleichende Urteilsanalyse zu Partnerinnentötungen als Form des Femizids, (zuletzt abgerufen am 13.05.24).
Deutscher Juristinnenbund: Stellungnahme: 23-02 zum Entwurf der „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ vom 08.03.2022, Stellungnahme vom 10.02.2023, (zuletzt abgerufen am 13.05.24).
Deutscher Juristinnenbund: Offener Brief: 24-01, Frauen fordern ihre Rechte ein: Dringender offener Brief an Justizminister Buschmann (FDP) und die Bundesregierung zu ihrer Blockade-Haltung zum EU-weiten Schutz von Millionen von Frauen vor Gewalt, Offener Brief vom 31.01.2024 (zuletzt abgerufen am 13.05.24).
Deutscher Juristinnenbund: Pressemitteilung: 24-10, Wichtig trotz großer Leerstelle: djb begrüßt EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Pressemitteilung vom 08.02.2024 (zuletzt abgerufen am 13.05.24).